Konstruktivismus und Glauben
© Rupert Lay 2014
Was benennt das Wort „Christsein“?
Der Essay möchte versuchen aufzuweisen, dass Christsein auch in der Welt des Heute seinen Platz hat.
Ein Wort ins Vorhinein
Das Glauben-können ist eine der vielen Voraussetzungen für ein gelingendes, glückendes Leben. Menschsein ist nur im Zusammen mit Anderen möglich, kann sich nur in diesem Zusammen entfalten. Glauben setzt Vertrauen voraus. Vertrauen in den Menschen, dem wir glauben und Vertrauen in die Stimmigkeit des Geglaubten. Nahezu alles, was wir zu wissen meinem, ist Wissen, das uns von anderen Menschen mitgeteilt wurde. Deren Wissen ist ebenfalls zum größten Teil geglaubtes Wissen, das sie von Dritten übernahmen. Die Möglichkeit solches Glaubenswissen auf seine Richtigkeit zu überprüfen ist in den meisten Fällen unmöglich. Somit leben wir alle in einer „Wolke des Nichtwissens“, des Glaubens. Menschen glauben wir, dass sie uns nicht täuschen wollen. Das aber schließt nicht aus, dass sie sich nicht täuschen oder getäuscht wurden. Oft sind sie selbst Getäuschte. Es gilt die Frage zu beantworten, ob sie selbst zwischen Wissen (stets gewonnen aus eigener Erfahrung) und Glaubenswissen (stets gewonnen über Fremdkenntnisse, die ihrerseits über eine oft lange Kette von tradierten Glaubenswissen zustande kamen) kritisch unterscheiden.1
1 Ein trivialer Test mag das Gemeinte verdeutlichen. Folgt man Wikipedia, misst die „Parlamentarische Monarchie Australien“ 10.180.000 km². Welches sind dessen Quellen? Über welche Kette von „Wissenden“ kam diese Messzahl zustand? Es mag nützlich sein, Wikipedia zu glauben. Aber auch dieses Glauben setzt ein Vertrauen voraus, das niemand in dieser Kette täuschen wollte oder getäuscht wurde. Zudem ist die Grenze Europas nach Asien hin von Geografen definiert und unterliegt mancher Willkür.
Ein Misstrauen ist dann angezeigt, wenn die Quelle unseres Wissens
interessiert ist, der wir, ohne zu fragen, gläubig folgen.
Interessen können, bewusst oder unbewusst, Informationen verändern.
erzeugen, unterdrücken… Das römische Recht kannte den Spruch: „Traue
niemals einer interessierten Quelle“.
Andererseits können wir in dieser Welt nicht leben, ohne solches
geglaubte Wissen, ohne die Annahme, dass uns Andere nicht, zumindest
nicht ohne Grund, zu täuschen beabsichtigen, selbst dann
nicht, wenn sie selbst sich täuschen sollten. Alle sozialen Systeme,
die wir Menschen ausbilden, beginnend mit Freundschaften bis hin zu
Großsystemen haben nur Bestand, wenn Menschen einender glaubend
vertrauen. Das ungeprüfte Glauben ist vermutlich letztlich nur zu
rechtfertigen, weil und insofern wir ohne Glauben nicht unser
eigenes personales Leben sichern und mehren könnten. Ein Glauben,
das dieses Leben eher mindert als mehrt, ist ethisch kaum zu
verantworten. Die Prüfung des Geglaubten auf seine Aufgabe, dessen
nachhaltigem Erhalt und der Entfaltung des eigenen personalen Lebens
zu dienen, ist ethisches Postulat. Das aber, so fordert es eine
verantwortet realisierte Ethik, so, dass wir ebenfalls dem
Leben des aus dem Geglaubten folgenden Handelns dienen. Das
Glauben ist stets dem Leben des und der Anderen verpflichtet. Auch
deren personales Leben muss infolge unseres Handelns eher erhalten
und entfaltet werden, als es gemindert würde. Wir sind also den
Menschen, mit denen wir eine Art symbiotischer Verbindung, eine
biophile (lebensmehrende) Beziehung eingehen, ethisch verpflichtet.
Da das Geglaubte für unser Handeln eine wichtige Rolle spielt, muss
unser Glauben auch an der Mehrung deren Leben orientiert sein.
Das gilt für den Großteil unseres „profanen“ Wissens. Wie aber steht
es mit dem religiösen, das sich, zumindest in seinen entfalteten
Gestalten, in seinem Götterbild objektiviert?
Der Ausgang
Der Konstruktivismus nimmt an, dass ein jeder Mensch sich seine
eignen Wirklichkeiten konstruiert. Die Strukturen und Inhalte dieser
Wirklichkeiten werden bestimmt durch Erfahrungen und deren
Interpretation und Verarbeitung, von Interessen, Erwartungen
und Bedürfnissen. Sie sind in einem bestimmten Umfang variabel.2
Diese Wirklichkeiten gilt es möglichst an den „objektiven Vorgaben
der Realität“ zu orientieren.3 Das wichtigste Kriterium
für eine realitätsdicht konstruierte Wirklichkeit ist der Ausgang
des von diesen Wirklichkeiten her bestimmten Handelns. Wenn dieses
Handeln nachhaltig eher personales Lebens des Handelnden und der von
diesem Handeln Betroffenen mehrt als mindert, nehmen wir an, dass
das Handeln realitätsdicht orientiert ist.4 Es folgt dem
Biophiliepostulat. Der biophile Ausgang des Handelns wird also zum
(einzigen?) „Wahrheitskriterium“ für alles Erkennen, aus dem dieses
Handeln folgt.5
Nun stellt sich die Frage nach der Realitätsdichte des religiösen
Glaubens. Es ist, folgt man dem Biophiliepostulat, realitätsdicht
konstruiert, wenn es eher nachhaltig zu einem Handeln führt, das
personales Lebens aller Betroffenen eher mehrt denn mindert. Die
zentrale Frage alles religiösen Glaubens lautet also: „Gibt es ein
Gottesbild, dass religiöses Glauben biophil gestaltet?“ Folgt aus
dem religiös Geglaubten ein eher nekrophiles Handeln, ist es als
realitätsfern abzulehnen.
Im Folgenden soll versucht werden, Kriterien aufzuzeigen, die
erfüllt sein müssen, um religiöses Glauben ethisch–verantwortet zu
wagen.
Theismen sind zu bestimmen von dem Gottesbild her, das ihnen zugrunde liegt. Auszuschließen sind sicherlich alle Gottesbilder, die raumzeitlich konstruiert werden. Aber auch solche, die dem Göttlichen Materie oder physikalische Energie zusprechen. Das aber bedeutet, dass jedes Sprechen über das Göttliche ein Sprechen über etwas Unvorstellbares und Unverständliches ist, denn all unser Vorstellen und Verstehen spielt in Raum und Zeit. Somit wäre jedes Sprechen inadäquat und nur das Schweigen sinnvoll und semantisch zu verantworten.6 Da jedoch unser Denken über das Vorstellbare hinausreichen kann, schuf unsere Vernunft unabhängig von aller Sinneserkenntnis reine Vernunftbegriffe, um Sachverhalte, die nicht anders zu erklären sind, erklärlich zu machen. Solche reinen Vernunftbegriffe kann man Leerbegriffe (Begriffe ohne jeden empirischen oder auf empirische Begriffe zurückgehenden Inhalt) nennen, da sie sicher jeder Definition entziehen. Der Begriff des Göttlichen7 ist ein solcher Vernunftbegriff. I. Kant (vgl. KpV 139) verweist darauf, dass Menschen dazu neigen, “Begriffen der reinen praktischen Vernunft“ sinnlich Vorstellbares zuzuordnen.
Und so kam und kommt es zu sinnlich vorgestelltem „Gottesbildern“.
Und so kam und kommt es zu Akzeptation und Ablehnung solcher Bilder
in Theologien und Atheismen.8
Diese Götterbilder würden, konsequent gedacht, den physikalischen
Gesetzen, soweit sie uns bekannt sind, widersprechen, weil sie ein
physikalisches Etwas einfangen würden, das den Realitäten der
Kontingenz und der Entropie unterworfen wäre.9
Es stellt sich die Frage, welches Gottesbild kommt diesen
Forderungen nahe.
Die jüdische Priesterschaft entwickelte während des Babylonischen
Exils (597-539)10 ein solches Bild. Sie wählten
eine Sprache, welche die Menschen ihrer Zeit verstanden, es war die
Sprache der Geschichten und der Mythen.11
8 Das von der jüdischen Priesterschaft in Babylon gezeichnet Menschenbild: „Und Gott sprach: ‚Lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis’“ (Gen 1,26) wurde pervertiert, als Menschen begannen „Gott“ nach ihrem Bild und Gleichnis zu verstehen.
Um seine Entstehung nicht der theologisches Reflexion zu überlassen, betten sie sein Werden in eine Geschichte ein, in die des „Exodus des Volkes aus Ägypten“12. Die Geschichte erzählt von Moses und einer Erscheinung des Göttlichen in einem brennenden Dornbusch: Auf die Frage, wer er denn sei, antwortet Gott: „Ich bin, der ich da bin“ (Ex 3,14)13.
Diesem „Ich bin, der ich da bin“ gaben die Theologen den Namen JHWH
(Jahwe). Das war der Name, den die Shasu14 ihrem
Nomadengott gegeben hatten.15 Um ihren bildlosen
Monotheismus zu sichern, lassen sie JHWH im 2. der 10 Gebote
sprechen: „Du sollst dir kein Bild von Gott machen“ (Ex 20,2). Damit
erreichte die Theologie (das Sprechen von Gott) seinen von nun an
nie mehr erreichten Höhepunkt.
Es ist sicherlich religiös von Nutzen einige Zeit bei den jüdischen
Priestern in Babylon zu verweilen. Sie entwickelten ihr religiöses
Denken nicht nur in Geschichten, sondern verwandten auch die
literarische Gattung des Mythos. Mythen berichten in der Form von
Geschichten von dem, „was niemals war, aber immer ist“. Hier seien
zwei angeführt, die uns auch heute noch Manches mitteilen können:
1. Der Mythos von der „Erschaffung des Menschen“. Es heißt, dass
Elohim (das semitische Wort für Gott, „El“, setzten sie in den
Plural) sprach: Lasset uns den Menschen machen nach
unserem Bild und Gleichnis. Als Mann und Frau erschuf er ihn“ (Gen
1,26) Das Gottesbild ist androgyn, der Mensch „besteht“ aus Mann und
Frau.
2. Die Herkunft des Bösen. „Und die Schlage sprach: ‚Hat Gott
euch wirklich verboten, von den Früchten des Baumes zu essen?’ –
Wisset ihr auch warum: Wenn ihr esset, werdet ihr sein wie Gott,
erkennend, was gut ist und böse“. Und schon den ersten
Menschen erschien es attraktiv zu sein wie Gott. Und sie aßen (Gen
3, 1-6). Doch schon in der folgenden Generation erschlug der
Ackerbauer Kain seinen der Viehzucht verpflichteten Bruder Abel.
Seitdem ist es vielen Menschen zu Eigen, Gut und Böse zu erkennen,
um zu sein wie Gott. Und sie morden einander im Namen des Guten bis
ins Heute.
Über Biophilie
Der biophile Ausgang unseres Handelns entscheidet allein darüber, ob unser Handeln an Realität orientiert ist oder nicht. Der biophile Ausgang unseres Handelns entscheidet allein darüber, ob unser Handeln an Realität orientiert ist oder nicht. Handeln ist, im Gegensatz zum reinen Verhalten, eine Folge des Wollens, Wollen eine Folge des Erkennens. Handeln gründet im Erkennen, und Glauben ist ein erkennendes Fürwahrhalten. Wenn sich Glauben also nicht im Handeln vorstellt, ist es unerheblich. Ethisch-verantwortetes Handeln aber muss dem Biophiliepostulat gehorchen, wenn es für sich Realitätsorientierung in Anspruch nimmt. Das religiöse Glauben rechtfertigt sich also, wie jedes andere so auch das profane Glauben, an den Handlungsfolgen – in den Bereichen: 1. Der Bereich des physischen Lebens (als Voraussetzung für alles Weitere). 2. Der Bereich des psychischen und sozialen Lebens. 3. Der Bereich des kulturellen, politischen, ökonomischen, religiösen Lebens. Dieser dritte Bereich des Lebens verlangt eine Ordnung, die von den Interessen, Bedürfnissen, Erwartungen, Werteinstellungen eines Menschen bestimmt wird.
Gott ist Liebe
Der Verfasser des „1. Briefes des Johannes“16 fasst die
christliche Lehre vom Göttlichen in einem Satz zusammen:
„Wer liebt, hat Gott schon erkannt, denn Gott ist Liebe.“ (1 Joh
4,8)
Dieser eine Satz stellt neben dem „Ich bin, der ich da bin“ den zweiten Höhepunkt der Theologie vor. Menschliche Liebe kommt wohl dem Da-Sein von allen menschlichen Erfahrungen am nächsten. Die Liebe sprach: „Lasset uns den Menschen machen, nach unserem Bild“. Er gibt
Antwort auf die Frage: „Was ist das Göttliche im/an den Menschen?“
Die christliche Lehre, dass Gott Liebe sei und Liebe also nur das
einzige Götterbild, das dem Christentum seine Würde und Legitimität
verleiht. Das frühe Christentum wusste um die „Triade der Liebe“:
der Liebende, der Geliebte und die Liebe. Sie suchte nach einer
erschöpflichen Metapher um diese Triade anschaulich zu machen.
Sie fanden sie in den Bildern: Vater (der Liebende), Sohn (der
Geliebte) und dem Ereignis der Liebe (Heiliger Geist).17
Es mag sein, dass diese Metaphern das ursprüngliche Bild „Gott ist
Liebe“ verdunkelten. Und so mag es sein, dass die Theologen des
sunnitischen Islam in Bagdad im 8. Jh.18 das
ursprüngliche Wissen und Meinen wieder zur Sprache brachten. Sie
lehrten in Kenntnis der christlichen Dreifaltigkeitstheologie, dass
sich die Einsicht, dass Gott Liebe sei, in der Dreiheit von
Liebendem, Geliebten und der Liebe entfaltet. Die christliche Lehre
von Vater-Sohn-Heiliger Geist sei eine weniger gute Metapher, um das
„Wesen des Göttlichen“ zu begreifen, denn sie könne als Tritheismus
verstanden werden.
Der „Glaube an die Liebe“ fand im frühen Christentum seine Worte in
einem Hymnus, den Paulus von Tarsus (+ 64 n. Chr.) - vermutlich mit
einigen Zusätzen - zitierte:
„Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich
nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht
ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn
reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das
Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles,
glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals
auf. Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt,
Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk
unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete kommt, vergeht
alles Stückwerk. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind,
dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann
wurde, legte ich ab, was Kind an mir war. Jetzt schauen wir in einen
Spiegel und einem Bilderrätsel.“ (1 Kor 13, 4-12)
„Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte
aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine
lärmende Pauke“. (1 Kor 13, 1-2)
Damit definierte er zugleich, was das Wort „Christ“ bedeutet.
Der Christ erkennt in der menschlichen Liebe wie in einem Rätselbild
das Göttliche. Und diese Erkenntnis, dieses Glauben ist ebenso
biophil wie die Liebe.